this post was submitted on 20 Oct 2025
36 points (100.0% liked)

DACH - Deutschsprachige Community für Deutschland, Österreich, Schweiz

4355 readers
399 users here now

Das Sammelbecken auf feddit.org für alle Deutschsprechenden aus Deutschland, Österreich, Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg und die zwei Belgier. Außerdem natürlich alle anderen deutschprechenden Länderteile der Welt.

Für länderspezifische Themen könnt ihr euch in folgenden Communities austauschen:

___

Aus gegebenem Anlass werden Posts zum Thema Palästina / Israel hier auf Dach gelöscht. Dasselbe gilt zurzeit für Wahlumfragen al´a Sonntagsumfrage.
___

Einsteigertipps für Neue gibt es hier.
___

Aus gegebenem Anlass: Bitte Titel von Posts nur sinnerweiternd und nicht sinnentstellend verändern. Eigene Meinungen gehören in den Superkommentar oder noch besser in einen eigenen Kommentar darunter.
___

Eine ausführliche Sidebar mit den Serverregeln usw. findet ihr auf der Startseite von feddit.org

___

founded 1 year ago
MODERATORS
you are viewing a single comment's thread
view the rest of the comments
[–] bremen15@feddit.org 1 points 5 days ago (1 children)

Kernthema

Warum scheiterte die grüne Modernisierung der Ampelregierung trotz breiter Zustimmung zu Klimaschutz in der Bevölkerung?


Hauptthesen von Philipp Staab

1. Zentrale Diagnose: Von Selbstentfaltung zu Selbsterhaltung

These: Die Gesellschaft hat einen fundamentalen Wertewandel durchlaufen:

  • Früher (70er-90er): Orientierung an Fortschritt, Selbstentfaltung, offener Zukunft
  • Heute: Orientierung an Gegenwartsverlängerung, Verlustabwehr, Selbsterhaltung

Ursachen:

  • 40 Jahre wachsendes ökologisches Bewusstsein
  • Zunehmende soziale Ungleichheit
  • Staat zieht sich zurück, verlagert Systemprobleme auf Individuen
  • Menschen müssen mehr Reproduktionsprobleme selbst lösen

2. Drei erodierte Grundlagen liberaler Politik

a) Geschlossene, dunkle Zukunft

  • Früher: Offene, helle Zukunft als Fortschrittsversprechen
  • Heute: Zukunft durch Klimakrise bedrohlich; durch CO2-Budgets "geschlossen"

b) Problematisierte individuelle Freiheit

  • Früher: Individuelle Freiheit als Leitstern
  • Heute: Konsumfreiheit wird als Ursache für Klimawandel und Ungleichheit gesehen

c) System schützt Lebenswelten nicht mehr

  • Früher: Staat hält Systemprobleme von privaten Lebenswelten fern
  • Heute: System wirft Probleme "vor die Füße" der Bürger (Selbstvorsorge, Konsumanpassung)

3. Legitimationskrise: Habermas reloaded

Bezug zu Habermas (1973):

  • Damals: Ökonomische Krisen eingehegt, kulturelle Kritik erwartet
  • Realität: Kulturelle Kritik wurde absorbiert, ökonomische Krisen kehrten zurück

Heute:

  • System und Lebenswelt fahren nicht mehr im "Tandem" in dieselbe Richtung
  • Lebenswelt: defensiv, auf Bewahrung orientiert
  • System: muss modernisieren, kann nicht anders

4. Projektion von Ängsten

Mechanismus: Klimaängste (90% beunruhigt) werden politisch nicht verarbeitet und deshalb umgeleitet auf:

  • Migration ("Grenzkontrollen schaffen wir noch")
  • Identitätspolitik (plötzlich "existenzielle" Bedrohung)
  • Kulturkampfthemen (Schnitzelverbot, Veggie-Day)

5. Scheitern grüner Modernisierung

Paradox: Trotz moderater Versprechen (weiter Autofahren, nur mit E-Motor) massive Abwehr

Ursachen:

  • Mangelndes Systemvertrauen
  • "Traumatisierung" durch frühere Modernisierungen ("was gestern richtig war, ist heute falsch")
  • Berührung normativer Lebensvorstellungen
  • Glaubwürdigkeitsproblem: Grünes Wachstum wirkt "zu schön, um wahr zu sein"

6. Politische Konsequenzen

Neue politische Dynamik:

  • Langfristige Modernisierungsprojekte ("Kathedralen") funktionieren nicht mehr
  • Stattdessen: Taktik und Okkasionalismus (Gelegenheitsorientierung)
  • Rechte beherrscht dieses Spiel besser
  • Schnelle Volatilität, politische Kipppunkte

Handlungsempfehlungen:

  • Politische Kipppunkte nutzen (Ahrtal, Pandemie als verpasste Chancen)
  • Bei Machtgewinn schnell handeln
  • Infrastrukturen setzen statt individuelle Verhaltensänderungen erwarten

Plausibilitätscheck

✅ Starke Argumente

  1. Empirische Untermauerung: Verweis auf soziologische Umfragen zu Klimaängsten vs. politischem Verhalten ist nachvollziehbar

  2. Paradoxon erklärt: Liefert schlüssige Erklärung für: "Warum scheitert moderate Klimapolitik trotz Klimabewusstsein?"

  3. Langfristperspektive: 40-jährige Entwicklung statt kurzfristige Ereigniserklärung ist methodisch solide

  4. Mechanismus der Projektion: Psychologisch plausibel, dass unbewältigte Ängste auf andere Felder verschoben werden

  5. Habermas-Aktualisierung: Intelligente Anwendung klassischer Theorie auf neue Situation

⚠️ Kritische Punkte

  1. Überverallgemeinerung?

    • Sind wirklich ALLE Gesellschaftsbereiche so defensiv?
    • Gibt es nicht auch progressive, zukunftsorientierte Milieus?
  2. Monokausalität Klimafrage

    • Werden andere Faktoren (Digitalisierung, Globalisierung, Pandemie) ausreichend gewichtet?
    • Ist die Klimafrage wirklich die "über allem thronende" Ursache?
  3. Projektionsthese schwer belegbar

    • Wie weist man empirisch nach, dass Migrationsängste "eigentlich" Klimaängste sind?
    • Könnte zirkulär sein: Alles wird auf Klimafrage zurückgeführt
  4. Normative Implikationen unklar

    • "Politischer Okkasionalismus" klingt wie Opportunismus
    • Wie unterscheidet sich das von autoritärer "Durchsetzungspolitik"?
    • Demokratietheoretisch problematisch?
  5. Widerspruch im Handlungsvorschlag

    • Diagnose: Menschen wollen keine Modernisierung
    • Therapie: Schnell modernisieren bei Gelegenheiten
    • Löst das nicht das Legitimationsproblem, das diagnostiziert wurde?
  6. Heizungsgesetz-Beispiel

    • War der Widerstand wirklich "irrational"?
    • Oder gab es berechtigte Sorgen (Kosten, Technologieoffenheit, Timing)?
  7. USA-Deutschland-Vergleich

    • Sind die Gesellschaften vergleichbar genug?
    • USA hatte Biden-Erfolge bei grüner Industriepolitik (IRA)

❓ Offene Fragen

  1. Wie erklärt die These Länder mit erfolgreicher Klimapolitik (Dänemark, Schweden)?

  2. Was ist mit jüngeren Generationen, die progressiver eingestellt scheinen?

  3. Kann "schnelles Handeln bei Kipppunkten" demokratisch legitimiert werden?

  4. Unterschätzt die Analyse materielle Interessen (fossile Industrien, Automobillobby)?


Fazit

Stärken: Staabs Analyse bietet eine originelle, theoretisch fundierte Erklärung für ein reales Paradoxon. Die Verbindung von Habermas' Krisentheorie mit aktuellen Phänomenen ist intellektuell anregend.

Schwächen: Die These neigt zu Überverallgemeinerung und erklärt möglicherweise zu viel mit einem Faktor. Die normativen Handlungsempfehlungen bleiben vage und werfen demokratietheoretische Fragen auf.

Gesamteinschätzung: Plausible Teildiagnose, aber vermutlich nicht die ganze Erklärung. Hilfreich für das Verständnis psychosozialer Dynamiken, sollte aber durch materielle und institutionelle Analysen ergänzt werden.

===========

Abschrift des Interviews mit Whisper, dann weiterverarbeitet mit LLM.

[–] cows_are_underrated@feddit.org 2 points 5 days ago (1 children)

Also Kurz zusammengefasst: Staatsversagen.

Würde dem ganzen so ohne weiteres Zustimmen.

[–] bremen15@feddit.org 2 points 5 days ago (1 children)

ich würde "Systemversagen" sagen, weil die Gesellschaft als Ganzes das so blöde gemacht hat. der Staat ist ja "nur" Ausdruck der (blöden) Gesellschaft.

Es ist eine Mischung aus beiden. Kapitalinteressen sind ja nicht die Interessen der Gesellschaft, aber manipulieren massivst die Gesellschaft und die Politik um die eigenen Interessen auf Kosten des Planeten durchzusetzen. Sowohl Gesellschaft als auch Politik haben sich nicht ausreichend wieder setzt und nun haben wir den Salat.